Dort lebte einer der interessantesten mystischen Denker, die ich kennenlernte, Hasan Lütfi Şuşut, dessen Werke inzwischen auch auf Englisch zugänglich sind. Ich hatte ihn mehrfach in seinem Büro in der Stadt gesehen, und der kleine schmächtige Körper ließ erkennen, daß Hasan Lütfi Bey ihn durch ständiges Fasten ganz in seine Gewalt gebracht hatte - war nicht Hunger, wie er im Einklang mit alten mystischen Traditionen sagte, «die Speise der Heiligen»?
Ständige Meditation mit Atemkontrolle lehrte er, und sein Ziel auf dem Wege war das «Absolute Qualitätslose», das «Nicht-Sein», das von allem Geschaffenen völlig Verschiedene. Er glaubte, daß
dies eine typisch türkisch-zentralasiatische Art des Gottesverständnisses war und lehnte die traditionelle Mystik ab.
Nein, von mystischer Liebe, von dem Überschwang der großen Dichter wollte er nichts wissen - «Entwerden», zu Nichts werden, das war das Ziel.
«Je mehr du Nichts wirst, desto mächtiger wirst du», belehrte er uns, während der Sturm an den Fenstergittern rüttelte. «Wie ein Steinmetz löst dich der Schmerz aus dem Steinblock.»
Er wußte freilich, daß der geistige Führer nur ein Leuchtturm, nicht aber das Ziel war, «aber er kann sein Licht nicht verstecken». Während der eiserne Ofen glühte, versuchte er uns in die Welt des Absolut Anderen zu führen, und mich fror. Beim Abschied schenkte er mir eine schöne türkische Handschrift mit Legenden des großen Gottesfreundes Abdul Qadir al-Gilani. Doch der eisige Regen an der Bushaltestelle ließ mich Sehnsucht empfinden nach etwas Wärme, auch im geistig-seelischen Bereich.
Quelle: Annemarie Schimmel - Morgenland und Abendland
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